
SANDRO ZOLLINGER
Buch & Regie
Geboren 1975 in Arosa, studierte nach seiner Ausbildung als Treuhänder Film- und Medientheorie in Berlin. Seit 2004 arbeitet er als unabhängiger Filmschaffender und Autor und ist Mitinhaber von «Montezuma Film». In seinen mehrfach ausgezeichneten Arbeiten beschäftigt er sich eindringlich mit der Suche nach innovativen Erzählformen und neuen Perspektiven.

ROMAN VITAL
Regie & Montage
Geboren 1975 in Arosa, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Montage und Dokumentarfilm. Seit 2006 arbeitet er als freier Produzent, Regisseur und Filmeditor in Zürich. Er ist Inhaber von «Montezuma Film». Seine mehrfach preisgekrönten Arbeiten setzen sich nachdrücklich mit gesellschaftlichen Themen auseinander.

KLAUS MERZ
Autor «LOS»
Geboren 1945 in Aarau, zählt zu den prägenden Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und mit renommierten Preisen im gesamten deutschsprachigen Raum ausgezeichnet.
INTERVIEW
07. Januar 2020
Euer Virtual Reality Werk «LOS» ist nicht einfach zu verorten. Ist es ein audiovisuelles Hörbuch? Eine Literaturverfilmung?
Sandro Zollinger: Ehrlich gesagt fehlt mir auch noch ein wirklich griffiges Label. Technisch gesehen ist es klar ein 360° Film. Doch durch die künstlerische Ausdrucksform entsteht etwas ganz Eigenes, das so noch nicht umgesetzt wurde.
Unser Ziel war es, eine Symbiose zwischen Literatur und Virtual Reality zu finden, wie wir sie aus der Natur kennen. Ein Zusammengehen von zwei eigenständigen Arten zu ihrem gegenseitigen Nutzen. Daraus ist ein literarisches Virtual Reality Erlebnis entstanden, würde ich sagen, oder eine virtuelle Lesereise.
Wie seid ihr auf diese Idee gekommen?
Sandro Zollinger: Uns geht es immer um das Erzählen einer Geschichte, die mehrdeutig ist, die herausfordert, die nachhallt. Seit dem Auftauchen von Virtual Reality haben wir uns damit beschäftigt, wie wir in diesem Medium Geschichten erzählen können.
Vom filmischen Erzählen her gesehen gibt es einen fundamentalen Unterschied: In Virtual Reality übernimmt der Zuschauer einen Teil der Regie. Denn er kann hinschauen, wo er will, er wählt seinen Bildausschnitt selbst. Beim Erzählen will ich, als Regisseur aber die Kontrolle. Ich will, dass das für die Geschichte Wichtige gesehen wird. So komme ich beim Erzählen mit Virtual Reality nicht drum herum, die Aufmerksamkeit des Zuschauers immer sozusagen in die Richtung der Geschichte zu lenken. Ich muss also auf die eine oder andere Weise immer wie ein Reiseführer auf einer Stadtrundfahrt winken: Hier gibt es was zu sehen, da ist die Geschichte.
So ist die Idee entstanden, die Geschichte vorrangig mit Worten in Form einer literarischen Lesung zu erzählen und mithilfe von Virtual Reality Atmosphäre und Gefühle darzustellen.
Wovon handelt «LOS»?
Roman Vital: «LOS» ist die Geschichte eines Mannes, der alleine zu einer Wanderung in die Schweizer Berge aufbricht und in einem Schneesturm verunfallt. Sein nahendes Ende vor Augen macht er sich Gedanken über das Leben und den Tod. Im Kern geht es dabei um Vergänglichkeit, ums Abschiednehmen und darum, den Frieden zu finden.
Und gerade weil die Geschichte aus der Perspektive des Todes erzählt wird, erscheint das Leben in einem anderem Licht. Es wird unschätzbar wertvoll und relativiert sich zugleich auf befreiende Weise.
Der Titel, den ihr von der Erzählung von Klaus Merz übernommen habt, bietet Spielraum für Interpretationen. Was ist eure Lesart?
Sandro Zollinger: «LOS» bedeutet für mich Aufbruch. Jetzt geht’s los, jetzt kommt es darauf an – aber auch das Loslassen klingt mit an.
Roman Vital: Für mich steckt in den drei Buchstaben Schicksal, Befreiung und Akzeptanz.
Die Geschichte führt den Protagonisten in die Berge. Was bedeuten die Berge für die Schweizer Identität?
Sandro Zollinger: Für die Schweizer sind die Berge Markenzeichen und Sehnsuchtsort zugleich. Das Selbstbild des Schweizers ist von den Bergen und dem Leben in den Bergen geprägt, obwohl die meisten Einwohner in Städten im Flachland wohnen.
Auch «LOS« ist geprägt von dieser Bergwelt. Sie ist das Ziel von Peter Thalers Wanderung und ist präsent in seinen Erinnerungen, z.B. an die obligatorischen Schulausflüge in die Berge – bis heute Pflichtprogramm eines jeden Schweizer Schülers – oder an «Heidi», die weltbekannte Kindergeschichte von Johanna Spyri oder an den Text der Schweizer Nationalhymne, in der sich zu Beginn gleich einmal der Alpenfirn rötet.
Neben den Bergen spielt das Meer in «LOS» eine ausgeprägte Rolle. Wie ist es dazu gekommen?out?
Roman Vital: Die Spur ist bereits im Buch gelegt und uns erschien es wichtig, zu den Bergen, dem Ort der Handlung, ein Gegengewicht zu setzen. Wie es der Tod für das Leben ist.
In einer Stelle des Textes erinnert sich Thaler, wie er erst beim Tauchen im Meer die Berge zu schätzen lernte. Erst als er dieses Gegengebirge unter Wasser sieht, wie er es nennt, wird ihm klar: «Auch der Fels ist also verwüst-lich, endlich, Flugsand wie er selber auch», um Klaus Merz zu zitieren.
Gegen Ende, nach den letzten Worten der Erzählung, erzählt ihr sozusagen über den Tod hinaus. Wie ist diese eindrückliche Passage entstanden?
Roman Vital: Uns war klar, dass die Geschichte nicht mit den letzten Worten der Erzählung enden konnte – was dazu führte, dass wir eine Darstellung für den Tod finden mussten. Es war uns aber auch klar, dass es dafür keine visuelle Lösung gab. So haben wir uns darauf konzentriert, einen Zugang über den Ton zu finden.
Am Ende eines langen Prozesses sind wir dann beim Monochord gelandet. Einem Klanginstrument mit mehreren, auf den gleichen Ton gestimmten Saiten. Wenn man mit den Fingern über die Saiten streicht, entsteht ein Klangteppich, eine Abfolge von gleichen Tönen, deren Tonwellen sich graduell überlagern und zufällige Obertöne entstehen lassen. Diese Ur-Töne werden ganz unterschiedlich wahrgenommen: Die einen hören Blasinstrumente, andere Gesänge, doch allen gemeinsam ist ein Empfinden einer übergeordneten, übersinnlichen Harmonie. Damit hatten wir eine uns zulässig erscheinende und passende Darstellungsform für den Tod gefunden.
Sandro Zollinger: Ich bin immer noch überrascht und auch ein wenig stolz, dass wir in einem so bildgewaltigen Medium wie Virtual Reality fast eineinhalb Minuten in ein konturloses Schwarz eintauchen und nur mit einem Klanginstrument weitererzählen. Wir sind da ein Wagnis eingegangen, wie so viele bei der Realisation von «LOS».
Wie funktioniert ein 360° Dreh und wie unterscheidet er sich von einem herkömmlichen Film-Dreh?
Roman Vital: Wir haben mit sechs Kameras gleichzeitig in alle Richtungen aufgezeichnet. So einsteht ein Bild in Kugelform, eine Sphäre, und die Position der Kameras ist die Position, welche der Zuschauer, wenn er das VR-Set aufsetzt, im virtuellen Raum einnimmt.
Ein signifikanter Unterschied zum Film-Dreh besteht darin, dass bei einer 360° Aufnahme alles im Bild ist. Also müssen der Kameramann und das gesamte Team verschwinden. Bei der Aufnahme des Zimmers war dies leicht zu bewerkstelligen. Kamera ab und alle verlassen den Raum. Aber beim Schneesturm zum Beispiel mussten wir uns mit Schaufeln in den Schnee eingraben.
Sandro Zollinger: Vielleicht noch eine Anekdote dazu: Einen Teil der Unterwasseraufnahmen drehten wir im Mittelmeer in einer Bucht in Griechenland. Ich platzierte die Kameras tauchenderweise auf den Meeresboden und schwamm natürlich sofort weg, um ja nicht im Bild zu sein. Als ich mich in sicherer Distanz umdrehte, fiel mir auf, dass ich mir nicht gemerkt hatte, wo ich die Kameras genau versenkt hatte. Von der Wasseroberfläche aus waren sie nicht mehr zu erkennen und so hiess es: Tauchen und suchen. Und plötzlich wird eine kleine, lauschige Bucht grösser als man denkt. Nach gut einer Stunde hielten wir aber das wertvolle Stück Equipment wieder in unseren Händen.
Wie muss man sich den Drehprozess vorstellen? Wie lange hat er gedauert?
Roman Vital: Eigentlich von der Idee weg bis weit in den Schnittraum hinein. Wir haben immer wieder Aufnahmen gedreht und sie gerade auch im Zusammenspiel mit der Literatur angeschaut. Und aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen heraus haben wir Szenen nochmals gedreht, einen anderen Kamerastandort gewählt oder auch einen anderen Drehort.
Zum Beispiel hatten wir eine herrliche Frühlingsszene gedreht und dachten, die ist perfekt. Aber als wir grob das Timing im Ablauf mit Text geschnitten hatten, schien uns die Stimmung zu frühlingshaft. Wir erkannten, dass mehr Verbindung zum Winter nötig war. Ich hatte dann ein Bild vor mir, wie die ersten Krokusse durch die schmelzende Schneedecke brechen und so sind wir ein Jahr später nochmals in die Berge und drehten eine neue Szene.
Sandro Zollinger: Beeinflusst hat den Drehprozess auch der Umstand, dass wir die Aufnahmen nicht, wie im digitalen Zeitalter gewohnt, vor Ort ansehen konnten. Die sechs Einstellungen mussten dafür zuerst im Computer zusammengeführt werden. Das verleiht dem Drehprozess etwas Analoges: Der Film ist im Kasten, doch erst nach dem Entwickeln, sieht man in der VR-Brille, wie die Aufnahme gelungen ist.
Was waren die Herausforderungen in der Postproduktion? Welche grundlegenden Fragen haben sich im Schnitt gestellt?
Roman Vital: Sehr zeitintensiv war das «Stitching», das nahtlose Zusammenfügen der Einstellungen zu einer Sphäre. Das ist ein komplexer Workflow mit viel Handarbeit, oftmals Frame um Frame.
Der Schnitt in Virtual Reality unterscheidet sich frappant vom Filmschnitt. Da VR kein projiziertes, sondern eine Art physisches Bilderlebnis ist, ist die Auffassung von Raum und Zeit eine völlig andere. Sie ist viel näher an unserer realen Wahrnehmung.
Im Filmschnitt sind dem Spiel mit Raum und Zeit kaum Grenzen gesetzt. Über einen harten Schnitt kann ich problemlos von Paris nach London springen oder 20 Jahre in die Vergangenheit. Das ist in Virtual Reality völlig anders, da hier nicht von Bild auf Bild geschnitten wird, sondern von Raum zu Raum.
Das stellt gerade im Szenenwechsel eine besondere Herausforderung dar. Wie bringe ich den Zuschauer, der sich unter Wasser befindet, mitten in einen Schneesturm, ohne dass er aus dem Erlebnis herausgerissen wird? Dass Raum und Zeit für ihn weiter plausibel erscheinen? Um dies zu erreichen, haben wir ausschliesslich mit überlangen, transformierenden Überblendungen und einem ausgeklügelten Sounddesign gearbeitet.
Wir haben ja schon ein wenig über die eingesetzte Musik geredet – ausschliesslich Klanginstrumente. Sie sind aber nur ein Teil des gesamten Sounddesigns?
Sandro Zollinger: Das Sounddesign ist immens wichtig, damit das Eintauchen in die virtuelle Welt als real wahrgenommen wird. Mit Thomas Gassmann konnten wir einen herausragenden Sounddesigner gewinnen, der grosse Erfahrungen aus dem Bereich VR-Ton mitbrachte.
Der Prozess zum endgültigen Sounddesign lief dann so, dass wir erstmal Ideen reingepackt und dann fortlaufend ausgedünnt haben – ganz nach der Maxime: weniger ist mehr.
Und für die Aufnahme der Lesung – auf Deutsch mit der Stimme von Klaus Merz – war es uns wichtig, eine gleichbleibende Präsenz zu erreichen, immer das Gefühl zu vermitteln, dass aus einem Buch vorgelesen wird.
Wie geht es jetzt für Euch weiter?
Roman Vital: Im Januar 2020 dürfen wir mit «LOS» unsere Weltpremiere am renommierten Sundance Filmfestival bestreiten und für danach planen wir bereits eine Tournee, die LOS neben weiteren Filmfestivals auch an Literaturfestivals, Kunstmuseen oder Schulen bringen wird.
Ausserdem sind wir in der Entwicklung eines Kino-Dokumentarfilms über die Suche nach der Wahrheit und spielen auch schon mit dem Gedanken, eine weitere literarische Vorlage mit Virtual Reality zu verbinden.
ANMERKUNGEN
Klaus Merz
Das audiovisuelle Neuland von Sandro Zollinger und Roman Vital betretend, schlagen mich besonders jene Filmbilder in Bann, die mein eigenes Buchstaben- und Imaginationsgehäuse weiten:
So zieht mich die Wolkenspirale am Anfang von Thalers „Gang ins Gebirg“ unwillkürlich in die Tiefe der Zeit, zu den legendären Urnebeln hinab. Oder ich trete in Henri de Toulouse-Lautrecs spätes Gemälde „Deux chevaliers en armure“ fast leibhaftig ein, das Geschehen umgibt mich, ich rücke selber vor, mit den Reitenden.
Zum Schluss dann noch das zarte Vibrieren der Krokusse im aufkommenden Frühlingswind, der die kalten Reste des Schnees langsam zum Schmelzen bringt. Neues Leben. Und ein weiterer gültiger Schritt über meine literarische Vorgabe hinaus.
ANMERKUNGEN
Montezuma Film
«LOS» verbindet gekonnt Literatur und Virtual Reality und setzt sich eindrücklich mit einem Thema auseinander, das uns alle betrifft. Die atemberaubende Lesereise regt die Zuschauer an, über die Vergänglichkeit, über das Leben und den Tod zu sinnieren und berührt auf wundersame Weise.
Von Beginn an waren wir überzeugt vom Vorhaben, mit Virtual Reality einen modernen Zugang zur Literatur zu schaffen. Und gleichzeitig eine neuartige Form des Erzählens mit Virtual Reality zu entwickeln, die nicht primär auf den Effekt setzt, sondern den Effekt einsetzt, um eine tiefsinnige Geschichte zu erzählen.
Eine besondere Qualität für das Publikum liegt dabei im Umstand, dass alle zwar der gleichen Geschichte folgen, doch nicht das Gleiche sehen und empfinden, was im Nachhinein zu angeregten Unterhaltungen führt. Genau das, was wir mit allen unseren Produktionen erreichen möchten.
«LOS» hat das Potential ein gegensätzliches und vielschichtiges Publikum anzusprechen: Digital Natives und Leseratten, Büchermuffel und VR Neuling vom Schüler bis zum Rentner.
Das Zeitlose des Themas und die Faszination eines neuen Mediums versprechen eine langfristige und vielseitige Auswertung über verschiedene Kanäle. (Film‑, VR- und Literaturfestival, Kunstmuseen und ‑gallerien, Kulturveranstaltungen, Schulen und VR-Wanderkino, etc.)